„Doch bevor eine neue Sonne aufgehen kann, müssen noch die finstersten Stunden vorüberziehen.“
– War Wind, Shama’Li-Kampagne
Die Suche nach dem verlorenen Groove ist das spannendste Abenteuer meines Lebens. Auf meiner Reise, die mich zu mir selbst führt, habe ich meine Stärken erkannt und unerwartete Unterstützung bekommen. Die brauche ich auch, um mich den inneren Dämonen zu stellen. Während ich früher planlos und verzweifelt war, wenn ich den Groove verloren hatte, weiß ich diesmal, dass er wie eine Kraftquelle ist, die mit Selbstachtung und einem Zugang zu meinen Gefühlen zu tun hat.
Nachdem ich einige falsche Lehren erkannt habe, stellt sich die Frage: Was ist denn ein gesundes Verhältnis zu den eigenen Emotionen?
Eines kann ich mit Sicherheit feststellen: Wenn die eigenen Gefühle nur dann ok sind, wenn es sich um Freude oder Überraschung handelt, dann ist man eine arme Sau. Das ist so ähnlich, als ob man „nur positive Neuigkeiten“ berichten oder nur mit warmen Farben malen darf. Alles, was nicht in dieses enge Schema passt, muss unterdrückt oder heimlich ausgelebt werden. Das kann auf Dauer natürlich nicht gutgehen.
„Zorn“ wird eventuell noch als „Unzufriedenheit“ gedeutet und dann als „Willen zur Veränderung“ und „Tatendrang“ verpackt. „Angst““ schickt sich schon weniger für einen Mann. Dabei ist sie im richtigen Maße ein wertvoller Ratgeber und ein Hinweis auf eine mögliche Gefahr. Klar klingt „Mut“ besser – der kann aber ebenso in Leichtsinnigkeit umschlagen. Da sind mir ein geschärfter Blick auf die Dinge und Verantwortungsgefühl lieber.
Aber das schlimmste, verbotene Gefühl für einen Mann ist Traurigkeit oder Ergriffenheit, die einen zum Weinen bringt. Es ist das skurille Ergebnis einer völlig verkorksten Entwicklung, dass Männer einerseits Gefühle haben und zeigen sollen, andererseits dann dafür abgelehnt oder als schwächlich angesehen werden. Die einzige richtige Reaktion ist, sich einen Dreck darum zu scheren und seine Gefühle zuzulassen. Ein Mann muss stark sein, um sich Schwäche erlauben zu können.
Entgegen der landläufigen Wahrnehmung ist es nicht am schlimmsten, wenn man viel weinen muss. Wirklich schlimm ist es, wenn man überhaupt nicht mehr weinen kann.
Als beste Analogie fällt mir das Märchen ein, in dem der König seine Töchter fragt, wie sehr sie ihn lieben, und eine antwortet „wie das Salz“. Das erzürnt den Vater, der daraufhin die Prinzessin verstößt. Mit einem Mal verwandelt sich aber alles Salz im Königreich in Gold. Alle Speisen schmecken fad, viele Rezepte funktionieren nicht mehr, die Stimmung ist im Keller. Das Salz, so dämmert es dem König, hat das Leben erst richtig lebenswert gemacht. Es war in kleinen Mengen so allgegenwärtig, dass es einem gar nicht mehr aufgefallen ist.
Ich erinnere mich an eine Verfilmung aus der Tschechoslowakei namens „Der Salzprinz“, in der gegen teures Geld Salz aus dem Ausland herbeigeschafft werden soll. Doch kaum haben die Truhen und Wagen die Grenze passiert, verwandelt sich das importierte Salz ebenfalls in Gold.
Es hilft alles nichts: Der ursprüngliche Fehler muss berichtigt werden, bevor das Leben wieder weitergehen kann. Wie mit dem Salz, so ist es mit dem Weinen – was sogar ein wenig naheliegt, schließlich sind Tränen salzig.
Ende 2012, mitten in den Jahren vor der Auszeit, hörte ich eine Predigt über das Lied „Die Nacht ist vorgedrungen“. Das Stück ist während der Nazizeit entstanden und offenbahrt einen beeindruckenden Optimismus auch während der tiefsten Nacht, dass der Tag bald kommen möge.
Ich habe daraufhin eine Aufnahme gesucht und gefunden (Quelle). Die Version ohne musikalische Begleitung, also der reine Gesang, hat mich tief berührt, weil sie so verletzlich herüberkommt. Als ich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder weinen konnte, da fiel eine unglaubliche innere Last von mir ab.
Dass auch die tiefste Nacht vorübergeht, dass ich wieder ganz gesund werden würde – das wagte ich mir damals nicht vorzustellen. Darum hat mich der Liedtext so ergriffen. Das deutet darauf hin, dass das Weinen nicht „einfach so“ passiert, sondern mir signalisiert, was mir wichtig ist.
Eine Variante, die ich immer wieder erlebe: Wenn eine Person, ein Tier oder selbst ein fiktiver Charakter angeblich „zu nichts nütze ist“ oder „von niemandem geliebt wird“, dann kommen mir schnell die Tränen. Ich erinnere mich an die eigene Erfahrung, selbst nach reinen Nützlichkeitserwägungen beurteilt und weggeworfen worden zu sein oder Liebe „nicht verdient zu haben“. Diese unheimlich grausame Behandlung möchte ich weder für mich noch für jemand anderen. Das ist eine Überzeugung, die mir sehr viel wert ist.
Ich schien immer gefühlvoller als andere Menschen in meiner Umgebung zu sein – vielleicht feinfühliger. Es hat Jahrzehnte gedauert, bis ich das nicht mehr als „Schwäche“ oder „Defekt“ angesehen, sondern als normalen Teil meiner Persönlichkeit akzeptiert habe. Äußere Umstände – kulturelle Normen und Tabus, aber auch Reaktionen von anderen – haben ihren Teil dazu beigetragen, dass es so lange gedauert hat. Die Zeit ist gekommen, diese Facette meiner Person willkommen zu heißen und Frieden mit mir selbst zu schließen.
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