Ich bin auf der Suche nach dem verlorenen Groove. Zwei Blogeinträge fassen jeweils alle Blogeinträge aus Q2/2020 und alle Blogeinträge aus Q3/2020 zusammen. Zuletzt habe ich gebloggt über Lieder, die mich durch die Nacht bringen.
Vorgestern bin ich ein Jahr älter geworden. Einen so einsamen Geburtstag hatte ich zuletzt vor sieben Jahren. Damals bin ich immerhin ordentlich abtanzen gegangen – selbst das geht diesmal nicht.
Kuchen gab es aus dem Supermarkt – und eine Geburtstagstorte in Form einer Tafel Schokolade. Immerhin kamen viele virtuelle Glückwünsche an und jemand empfahl mir sogar ein Lied, das ich noch nicht kannte:
Madonna feat. MIA: B-Day Song
Wenn ich mir durchlese, was ich zu meinem runden Geburtstag vor vier Jahren geschrieben habe, dann klingt das wie ein Bericht aus einer fernen Welt – so glücklich und zufrieden. Allerdings habe ich bereits beim Rückblick auf die Zeit vor fünf bzw. zehn Jahren festgestellt: Viele Dinge habe ich schon früher richtig gesehen. Das ist der Nutzen des Bloggens: Ich kann mir später durchlesen, was ich früher einmal gedacht und gefühlt habe.
Dabei ist mir zum wiederholten Male ein Irrtum in meiner Selbstwahrnehmung aufgefallen: Ich halte mich rückblickend oft für naiv und unwissend. Dabei stelle ich fest, wenn ich mein Tagebuch von früher lese, dass ich mehr wusste, als ich in Erinnerung hatte. Ich habe sogar über diese Idee selbst schon vor Jahren gebloggt!
Erst gestern ist mir klar geworden, was diesen Irrtum befördert haben kann und warum er so schädlich ist: Bildung hat in meiner Familie und meinem sozialen Umfeld immer eine wichtige Rolle gespielt. Bildung war der Schlüssel und Garant zum Aufstieg vor einer Generation. Lebenslanges Lernen ist ein wichtiger Wert für mich.
Im Übermaß kann daraus jedoch ein Lernirrtum entstehen: Wenn man genug lerne, könne man sich auf alles vorbereiten. Man müsse es nur besser wissen, um schlechte Dinge zu vermeiden. Daraus folgt, dass wenn einem etwas Schlechtes passiert, man offensichtlich dumm und naiv gewesen ist und sich beim Lernen nicht genug angestrengt hat.
Das ist die Bildungsbürgertum-Variante eines gut klingenden, aber absolut toxischen Glaubensgrundsatzes: „Jeder ist seines Glückes Schmied.“ Wem etwas Schlechtes widerfährt, der ist auch irgendwie selbst daran Schuld daran, „er hätte es ja besser machen können“.
Das ist zum einen die Abwehr der Angst, dass einem selbst etwas passieren könnte, selbst wenn man alles richtig macht – eine typisch konservative Lebenseinstellung. Zum anderen ist das der gerechte-Welt-Glaube (Just-world hypothesis) – der Fehler, anzunehmen, es gehe grundsätzlich auf der Welt schon gerecht zu.
Bildung ist wichtig; sie kann jedoch nicht auf alles vorbereiten: Manche Dinge kann man nicht vorher wissen. Sie sind nicht absehbar.
Das ist eine wichtige Sache, die ich im Vergleich zu einem halben Jahr zuvor anders sehe: Ich hätte die jetzige Krise nicht durch „mehr Wissen“ oder „besseres Vorbereiten“ verhindern können. Was mir passiert ist, war extrem ungewöhnlich und einfach Pech.
Freunde und Familie, professionelle Hilfe und Beratung waren sich einig in ihrem Urteil, das ich inzwischen annehmen und teilen kann: Ich hatte vernünftige Vorstellungen. Ich konnte mit bestem Wissen und Gewissen nicht vorhersehen oder verhindern, was mir passiert ist. Ich habe an meinem Unglück keine Schuld.
Und noch eine Sache, die ich anders sehe als zu Beginn meines Abenteuers: Ich war mir sehr wohl des Stresses, der Anspannung, des Risikos für meine Gesundheit bewusst. Ich habe nicht die Warnsignale ignoriert – im Gegenteil, ich habe mir zeitig Hilfe geholt und alle nötigen Schritte selbst in die Hand genommen.
Ich habe lange Zeit den Glauben aufrechterhalten, ich hätte schon irgendetwas falsch gemacht – andere Leute beschuldigen ist nicht fein. Aber ich bin lange davor zurückgeschreckt, anzunehmen, dass schlechte Dinge einfach so passieren, ohne dass jemand ganz konkret die Schuld daran trägt.
Ich habe in letzter Zeit oft gehört, um geliebt zu werden, muss man zuerst „sich selbst lieben“. Das hat immer eine starke Abwehrreaktion bei mir hervorgerufen – Zorn und Abscheu. Was der „Selbstliebe“ und dem „sich selbst verzeihen“ bislang im Wege stand, war das Fehlen der obenstehenden Erkenntnisse.
Das erklärt auch, warum mir die Tränen kamen, wenn es um das grundsätzliche Ablehnen von anderen ging, wenn sie nicht nützlich sind. Bei anderen konnte ich diese Empathie aufbringen, bei mir hatte ich lange eine innere Blockade. Aber wenn man danach die Menschen bemessen würde, ob sie immer so gut wie möglich vorbereitet wären und sich ständig fehlerlos verhalten würden, müsste man die ganze Menschheit verurteilen. Das kann’s nicht sein.
Das ist der Unterschied zwischen zwei Konzepten: Sich selbst verbessern? Sehr gerne – sich an sich selbst messen und besser werden klingt gut. Sich selbst optimieren? Nein danke – das klingt völlig unmenschlich und gnadenlos sich selbst gegenüber.
Für mein Leben ab jetzt habe ich eine neue Sicht: Ich muss nichts mehr beweisen, weder beruflich noch privat. Ich habe im Leben nicht erreicht, was ich wollte, aber alles, was ich konnte. Was jetzt noch kommt, ist alles Zugabe.
Drei Elemente haben sich für mich herauskristallisiert, die für mich funktionieren:
- Musik und Kreativität
- Herz und Hirn, Feinsinnigkeit
- mich in Umgebungen zurechtfinden mit Unsicherheit / Unschärfe / unklaren Regeln
Letzteres ist nicht etwa dadurch verursacht, dass ich Regeln nicht befolgen könnte. Dafür sorgen schließlich mein Verantwortungsgefühl und mein Pflichtbewusstsein. Es ist also nicht aus der Not geboren, sondern aus Freiheit entstanden. Das ist ein wichtiger Aspekt für die Zukunft, denn das kann längst nicht jeder.
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