Nach all den Meldungen über Erfolge und schöne Erlebnisse ist es wichtig, auf Körper und Seele zu hören und nicht das Gespür für die eigene Verletzlichtkeit zu verlieren.
Ich hatte letztes Jahr geschrieben, wie mir die Videos von Sandra Quedenbaum geholfen hatten, zu erkennen, dass ich wahrscheinlich eine extrovertierte hochsensible Persönlichkeit bin und wie mir eines ihrer Seminare geholfen hat, damit zu beginnen, das Mischpult des Lebens besser auf meine Bedürfnisse einzustellen.
Vor ein paar Wochen hat sie ein neues Video veröffentlicht, das mich wieder auf besondere Weise berührt hat. Es spricht mir aus der Seele!
Sandra Quedenbaum; Hochsensibilität, Schuld und Scham. Wenn toxische Scham unser Leben prägt
Es ist fast so, als hätte sie einen Teil meines Lebens auf wenige Minuten zusammengefasst. Über viele Elemente hatte ich sogar schon gebloggt!
Ich bin ok – aber in der Vergangenheit haben mir Leute eingeredet, dass ich als Person grundsätzlich nicht in Ordnung bin. Das hat mein Selbstwertgefühl nachhaltig angekratzt.
In dem Video wird außerdem bestätigt, dass der Rat, ich müsse mich nur selber lieben und von den anderen könne ich nichts erwarten, absolut falsch ist. Ich hatte das schon geahnt.
Wenn man jedoch den Eindruck vermittelt bekommt, man sei nicht liebenswert (ja sogar nicht lebenswert), dann ist es kein Wunder, wenn man ein verzerrtes Selbstbild entwickelt und ständig in der Angst lebt, eine Last zu sein – was sogar zu Selbstvernachlässigung führt. Kein Wunder, dass so eine Person Abgrenzungsschwierigkeiten hat und mit falschen Schuldgefühlen und der verkehrten Vorstellung von „Liebe, die man sich verdienen muss“ durchs Leben geht. Auch nicht verwunderlich, dass diese Person sich dann besonders Menschen unterwirft, die nicht gut zu ihr sind.
Die Überzeugungen, „nicht gut genug sein“ und dass es nur eine „gerechte Strafe“ sei, wenn mir schlechte Dinge passieren, gehört ebenfalls dazu. Ich kann meine größte Angst heute direkt benennen: die Angst, nicht geliebt werden zu können – und dass mir erst recht schlimme Dinge passieren, wenn ich es auch nur wage, das offen auszusprechen.
Einzig das Wort „toxisch“ hat mir in dem Video nicht gefallen – weil ich es in den letzten Jahren zuvorderst in Verbindung mit Männlichkeit in Gebrauch sehe. Gerade dieser Ausdruck bewirkt aber nichts Gutes, sondern bestätigt genau die schlechten Dinge, die in dem Video angesprochen werden – dass man nämlich als Mann grundsätzlich das Gefühl haben muss, „nicht gut genug“ zu sein und „etwas leisten müsse“, weil man ansonsten „nicht ok“ sei. Das hat mich über viele Jahre klein gehalten. Es ist Zeit, auszusteigen und klar zu benennen, dass eine solche Wortwahl nicht ok ist. Schluss mit der falschen Scham!
Ich habe einen Schritt gewagt und eine Idee umgesetzt, die ich schon länger mit mir herumgetragen hatte: Ich habe letzten Samstag an einem Seminar von Sandra Quedenbaum über Hochsensibilität teilgenommen. Seit ein paar Monaten hatte ich vermutet, dass ich eine extrovertierte hochsensible Person bin – und jetzt bin ich mir dessen sogar ziemlich sicher. Darüber Klarheit zu bekommen war einer der Gründe, an dem Seminar teilzunehmen. Aber eines nach dem anderen: Wie war’s?
Inhaltlich war es sehr ähnlich zu den Videos – also eine gute Transparenz bezüglich des Angebotes. Es ging mir denn auch weniger um neues Wissen als um den Austausch. Es war für mich eine ganz andere Erfahrung, das in einer Gruppe und mit Rückfragemöglichkeit zu erleben.
Am Ende fühlte ich mich tiefenentspannt. Ich war seit Jahren nicht mehr so einfach so lange auf etwas fokussiert. Ich habe mich wieder bei mir selbst gefühlt anstatt irgendwie vernebelt und verschwommen. In gewisser Weise habe ich seit über 20 Jahren nicht mehr so eine Ruhe gehabt, so eine Abwesenheit von Druck.
In den Tagen danach waren meine Muskeln entspannt (vor allem am Bauch). Mein Gehör war besser – ich habe dasselbe Lied plötzlich deutlich klarer gehört. Ich werde abends wieder müde und morgens sogar einigermaßen wach. Es ist, als ob ich an einem Tag die Entwicklung von einem Monat durchgemacht habe – oder von zwei… oder sogar sechs.
Ich weiß jetzt besser, wie der Weg voran aussehen wird: Ich werde aktiv nach Möglichkeiten suchen, mein Mischpult des Lebens richtig einzustellen, damit ich mich weder übernehme noch langweile. Am liebsten würde ich mir eine Gruppe von Hochsensiblen suchen, mit denen ich mich regelmäßig austauschen kann. Mal sehen, was wird!
Sandra Quedenbaum hat mich mit ihren Beiträgen noch auf eine weitere Sache aufmerksam gemacht. Wie üblich hat sie sowohl ein Video als auch einen Texte dazu:
Ich hatte am Anfang meiner Suche bereits drei erschreckende Beispiele für meine innere Stimme notiert. Mir sind mit etwas Konzentrieren noch drei weitere eingefallen:
„Du kannst nicht geliebt werden.“
„Du bist schwierig.“
„Deine Gefühle sind eine große Last.“
Es gibt noch weitere, die noch heftiger sind und die ich nicht öffentlich aufschreiben möchte. Was sie alle gemeinsam haben: In den guten Zeiten verstummten sie, nur um danach umso stärker wieder zu ertönen. Das hing eng damit zusammen, zu glauben, wenn eine gute Phase in meinem Leben zuende ging, hätte ich etwas falsch gemacht und würde nun dafür bestraft.
Jedes Beziehungsende war eine Katastrophe. Bösartig triumphierend rief mir mein innerer Kritiker zu: „Ich habe Dir doch die ganze Zeit gesagt, dass man Dich nicht lieben kann! Aber Du wolltest ja nicht hören! Ha! Das hast Du nun davon!“ Darum war anders sein immer besonders schrecklich für mich: „Wann akzeptierst Du endlich, dass Du anders bist als alle anderen und einfach nicht bekommen kannst, was sie haben? Du immer mit Deinen Gefühlen – jetzt fange nicht auch noch damit an! Gib endlich Ruhe!“
Das brachte mich auch dazu, dass ich die Fürsorge, die ich für andere selbstverständlich hatte, nicht für mich selbst aufbringen konnte. Ich brauchte eine sehr lange Reise ins Ich, um das zu merken, so stark war alles auf Ablenkung und Ignorieren gepolt. „Wenn Du an Dich selbst denkst, wird Dir etwas Schlimmes passieren!“ – eine weitere schreckliche innere Stimme.
Diese inneren Dialoge waren eine selbsterfüllende Prophezeihung: Wer so durchs Leben geht, der kann nur unter extrem glücklichen Umständen aus diesem Zustand ausbrechen. Der innere Kritiker war also keine sinnvolle Warnung, um mich zu schützen, sondern hat mich viele Jahren zu Boden gedrückt.
Ich weiß aus Erfahrung, dass es schwer ist, sich einen anderen Dialog anzugewöhnen. Es fühlt sich sehr künstlich und gezwungen an. Gerade das „zu etwas gezwungen werden, das man nicht fühlt“ war außerdem in der aktuellen persönlichen Krise Teil meines Problems. Es ist also verständlich, wenn sich meine Psyche nun umso heftiger dagegen wehrt.
In den letzten Monaten hat sich mein innerer Dialog zum Glück stark verändert: Die sehr negativen Be- und Verurteilungen kommen nur noch sehr selten durch. Es ist mir allerdings nicht klar, was was verursacht hat: Musste es mir erst besser gehen, damit sich der innere Dialog veränderte oder war es umgekehrt? Es kommt mir so vor, als ging beides wechselseitig in kleinen Schritten voran.
In den guten Zeiten sind andere Dialoge mit mir selbst möglich. Ich brauche dafür eine gewisse Ruhe, um mich auf mich selbst einzuschwingen. Wenn ich es schaffe, mich so wie in den letzten Wochen auf mich selbst und meine Bedürfnisse und Fähigkeiten zu konzentrieren, bin ich dem Groove deutlich näher. Ich habe diese Konzentrationsübung „the inner game“ genannt. Anstatt irgendetwas aktiv zu machen (und sich dabei selbst zu verlieren und auszubrennen), ist der Fokus nach innen gerichtet. Kurioserweise richtet das mehr aus als viele äußere Aktivitäten, obwohl sich in der restlichen Welt nichts verändert.
Es kostet sehr viel Kraft, nicht auf die Stimmen zu hören, die mir zurufen, dass ich unnütz bin, wenn ich nichts für andere leiste, dass ich fürchterlich egoistisch bin, wenn ich an mich selbst denke, und dass zur Ruhe zu kommen eine Katastrophe ist, weil ich die Zeit „besser verbringen müsste“. Aber derzeit sage ich mir selbst: Das ist das beste, was ich machen kann. Die anderen Optionen habe ich alle durch. Sogar mehrfach. Zeit, etwas daraus zu lernen.
Ian Betteridges Gesetz der Überschriften besagt, dass jeder Titel, der mit einem Fragezeichen endet, mit „nein“ beantwortet werden kann. Es liegt auf der Hand: Wenn die Leute wirklich Fakten oder Beweise hätten, bräuchten sie nicht die Frageform zu wählen. Warum also dann trotzdem ein Blogeintrag zu diesem Thema?
Ich fange mal von vorne an. Zum ersten Mal in Berührung gekommen bin ich mit dem Konzept der Hochsensibilität vor ein paar Jahren, als ich das Buch „Jenseits der Norm – hochbegabt und hoch sensibel?“ von Andrea Brackmann gelesen habe. Darin schreibt sie sowohl über Hochbegabte als auch Hochsensible. Ich fand das sehr berührend.
Erneut auf das Thema gestoßen wurde ich durch eine Empfehlung eines Videos von Sandra Quedenbaum: Wie hochsensible Kinder zu psychisch kranken Erwachsen werden. Das knüpfte hervorragend an das erwähnte Buch an und hat mich ebenfalls tief gerührt.
Dadurch neugierig geworden, guckte ich noch weitere Videos (und entsprechende Artikel) von derselben Autorin. Drei sprachen mich besonders an:
Klar, dass mich das interessierte – ich habe mich ja besonders mit meinen Gefühlen befasst. Die Gefühlswelt von Hochsensiblen zeigt sich insbesondere durch:
intensive Emotionen, dabei Wechseln von Gefühlen innerhalb von Sekunden
starke Reaktion auf Natur, Kunst und Musik
nahe am Wasser gebaut durch die tiefe Rührung
Das kam mir so bekannt vor! Aber den stärksten Eindruck hinterließ folgender Beitrag:
„Extrovertierte“ hochsensible Personen sind eigentlich ambivertiert, haben also immer auch introvertierte Anteile. Leute aus dieser Untergruppe der Hochsensiblen
genießen sowohl soziale Kontakte als auch Stunden alleine
kombinieren tiefes Denken zum Lösen von Problemen mit Empathie
wirken mitreißend, begeisternd
Ich konnte mir viele Videos der Autorin nicht in einem Rutsch ansehen, weil ich zwischendurch weinen musste. Wie ich inzwischen weiß, ist das ein guter Hinweis darauf, dass mir die Dinge etwas bedeuten.
Dieses letzte Video erzeugte in mir eine ganz merkwürdige Unruhe. Ich war sehr aufgeregt, denn es kam mir alles so vertraut vor! Insbesondere die scheinbar widersprüchlichen Qualitäten (tiefes Denken, intensives Fühlen; Geselligkeit und der Wunsch, allein sein zu wollen), die es so schwer machen, sich selbst einzuordnen, und die offensichtlich erklärt werden und mit einem Begriff benannt werden können!
Ist also der richtige Umgang mit „extrovertierter Hochsensibilität“ der Weg zurück zum Groove? Er scheint jedesmal so unglaublich nahe zu sein, wenn ich an das Thema denke, und ich habe dann immer das Gefühl, wieder ganz bei mir selbst zu sein, und das schon seit Tagen!
Doch Vorsicht, nicht zu eilig! Welche Gründe sprechen dagegen? Jetzt komme ich auf die Überschrift zurück…
Ein häufiger Irrtum beim Lesen von Texten rund um Psychologie ist, sich sehr schnell in bestimmten Mustern wiederzufinden. Alles, was nicht passt, wird einfach ausgeblendet (so funktioniert grundsätzliche Mustererkennung bei Menschen). Ohne genaues Nachprüfen kann das schnell dahingehend kippen, dass es die Aussagekraft von Astrologie bekommt: Wenn es nur allgemein genug formuliert ist (oder man es flüchtig genug liest), wird irgendetwas immer zutreffen, man füllt dann nur die Lücken auf. Mein wichtigster Einwand dagegen ist, dass z.B. allgemeine Texte über Introvertierte (etwa das sehr lesenwerte Buch „The Introvert Advantage“ von Marti Laney) in einiger Hinsicht sehr gut passen, in anderer hingegen kaum oder gar nicht. Diesmal jedoch ist es erschütternd zutreffend, und das ist sehr, sehr selten.
Zum zweiten ist das Konzept der Hochsensibilität noch nicht wissenschaftlich bewiesen. Sandra Quedenbaum weist darauf explizit hin (sehr seriös!) und hat einen sehr guten Einwand: Wenn Hochsensibilität als Erklärungsmodell taugt, um Menschen zu helfen, dann ist sie als Konzept auf jeden Fall nützlich.
Drittens habe ich Hochsensibilität bisher oft in sehr negativem Zusammenhang erlebt, in etwa:
„Ich bin eine HSP und daher ein ständiges Opfer meiner überdeutlichen Sinneswahrnehmung.“
„Ich bin eine HSP, deswegen muss ich nichts tun, selbst wenn das andere im Umgang mit mir immer wieder vor Herausforderungen stellt.“
„Ich bin HSP, also besser als andere!“
Umso erleichterter bin ich darüber, dass Sandra Quedenbaum einen sehr erdenden Beitrag dazu verfasst hat:
Warum es uns schwächt, wenn wir die Hochsensibilität idealisieren
Interessant ist es, Hochsensibilität weder als „Fluch“ noch als „Superkraft“ zu sehen, sondern als Gabe, die evolutionär einen Sinn hatte und heute richtig angewandt werden muss. Der entsprechende Umgang muss und kann gelernt werden!
Die genannte Herausforderung bei einem extrovertierten Hochsensiblen besteht darin, eine Balance zwischen den introvertierten und extrovertierten Anteilen der Persönlichkeit zu finden und sich in den extrovertierten Phasen nicht zu übernehmen und zu verausgaben. Das kommt mir so bekannt vor! Als eine weitere wichtige Fähigkeit wird genannt, eine gute Selbst- und Fremdwahrnehmung zu entwickeln. Das war erst letzte Woche mein Thema beim Bloggen!
Es spielt also letzten Endes keine Rolle, ob sich das Konzept der Hochsensibilität in naher Zukunft beweisen läßt und ob ich das bin, worauf sehr viel hindeutet. Entscheidend ist, dass die dazugehörigen Wegweiser, was ich tun muss, damit sich meine Persönlichkeit erfolgreich und angenehm entfalten kann, mir nützen. Das scheint auf jeden Fall so zu sein, und darum finde ich das, was ich gelernt habe, so wertvoll!