Stockholm-Syndrom

Endlich ist mir noch ein Wortspiel eingefallen, so dass ich den naheliegenden Kalauer „Jenseits von Schweden“ nicht nutzen muss (eigentlich müsste es ja auch „östlich von Schweden“ heißen, in Anlehnung an die Bibelstelle). Stockholm kann einen wirklich in seinen Bann ziehen.

In Schweden hatte ich nach einer abenteuerlichen Anreise zunächst einen tollen Abend in Stockholm, am nächsten Mittag die Weiterreise nach Härnösand, um dort das Mittsommerfest und eine weitere Feier mitzumachen, um schließlich einen Tag später nach Stockholm zurückzukehren und in den verbleibenden zwei Tagen aufgrund schlechten Wetters, aber auch ein wenig Müdigkeit einen Plattenladen durchstöbert und reiche Beute gemacht.

Ich habe aber noch mehr gemacht. Am Abend nach meinem ersten Besuch im Laden hatte mir der Besitzer noch eine Strecke für einen schönen Spaziergang empfohlen. Das ließ ich mir nicht zweimal, zumal das Regenwetter endlich aufgehört hatte. In Härnösand war ich zwischendurch Fahrrad gefahren, jetzt konnte ich noch eine gute Strecke zu Fuß zurücklegen. Natürlich war das ein hervorragender Anlass, um ein paar Klischee-Sonnenuntergangfotos zu machen (wie auf Sardinien)!

Von einer Esperantosprecherin aus Stockholm hatte ich mir ein paar Tipps für Restaurants, Cafés und Museen geholt. In ein Museum bin ich dann doch nicht gegangen, weil ich diesmal einfach keine Lust darauf hatte. Dafür war ich in einem der empfohlenen Restaurants und hinterher im vorgeschlagenen Café.

Dabei sind mir ein weiteres Mal die Sachen aufgefallen, die ich an den Schweden liebe:

  1. Schweden sind nicht introvertiert. Sie sind einfach ruhig auf der Straße. Hat man jedoch erst einmal Kontakt geknüpft, sind sie sehr gesellige Menschen, die gerne mit einem reden. Übrigens ist es mir ja mehrmals passiert, dass ich angesprochen wurde. Die Idee des in sich gekehrten Skandinaviers, zu dem man nicht durchdringt – ein Mythos.
  2. Leute mit ausländischen Wurzeln? Kein Problem! Es gibt anscheinend große Anstrengungen, diesen Menschen einen Platz in der Gesellschaft zu geben. Allgemein wird Schwedisch gesprochen, auch wenn man nicht wie ein Klischee-Schwede aussieht. Umgekehrt haben mir Leute sehr freundlich geholfen, etwa als ich mich in der U-Bahn mit dem Kartensystem nicht zurechtfand.
  3. Schweden donnern sich nicht auf, legen aber zu einem großen Teil Wert auf ordentliche, elegante Kleidung. Es lohnt sich also, auf typische Touristenklamotten zu verzichten.
  4. Die Frauen kommen mir überdurchschnittlich hübsch vor. Überhaupt scheinen die Leute gut auszusehen. Der Anteil an wirklich übergewichtigen Menschen ist anscheinend geringer als in Deutschland. In Kombination mit dem Kleidungsstil wirken viele Leute wie irgendwelche Alternative- oder Indiemusiker (oder wie man sich solche Musiker vorstellt).
  5. Was mich andauernd enzückt hat, war die Lächelhäufigkeit. Hätte ich nicht erwartet bei ruhigen, in der Öffentlichkeit etwas zurückhaltenden Menschen. Die Leute kommen so herzlich herüber! Besonders beeindruckt war ich bei der Bedienung im Café. Ich war hin und weg.

Schweden wirkt so sauber, ordentlich und modern, dass man gut versteht, warum es als eines der am weitesten entwickelten Länder der Welt gilt. Ich hatte – wie seinerzeit in Finnland – den Eindruck, dass das Land Deutschland zum Beispiel technisch voraus ist.

Alter Schwede!

Mein Bericht über Schweden ist noch nicht abgeschlossen! Nach einer Anreise mit Schwierigkeiten hatte ich ja bereits einen tollen Abend in Stockholm verbracht, um dann aber gleich am nächsten Tag nach Härnösand weiterzureisen und dort das Mittsommerfest und eine weitere Feier zu erleben.

Danach ging es aber wieder zurück nach Stockholm. Ich hatte mir kein festes Programm vorgenommen, sondern wollte in meinem Reiseführer einige Höhepunkte heraussuchen. Das Wetter erwies sich als recht kühl und regnerisch und ich war auch tatsächlich ein wenig platt. Was also tun? Zumindest einen Punkt hatte ich mir fest vorgenommen: Ich wollte unbedingt im Plattenladen „Mickes serier, CD & Vinyl“ vorbeischauen.

Einfacher Grund: Dieser Laden gehört Micke Englund, Gitarrist der legendären Esperanto-Rockband Amplifiki und damit einer der Helden meiner Kindheit! Mit ihm habe ich im April auf gemeinsam auf der Bühne gestanden, was einer der schönsten Tage in meinem Leben war.

Über den Laden hatte ich schon einmal gelesen; ich wollte ihn aber einmal selbst gesehen haben. Außerdem bin ich sowieso ein großer Fan davon, in CD-Läden zu stöbern – und bei Gebraucht-CDs findet man manches Mal Raritäten, die man gar nicht auf dem Schirm hatte!

Und was soll ich sagen? Das war eine goldrichtige Entscheidung! Ich habe im Hauptladen gleich am ersten Tag vier CDs gefunden. Am nächsten Tag ging ich noch in die Nebenfiliale auf der anderen Straßenseite und nahm noch einmal zehn CDs mit, dann noch einmal vier aus dem größeren Laden. (Ich hatte noch einmal im Internet recherchiert zu verschiedenen Albenausgaben, die mir am Tag zuvor bereits ins Auge gesprungen waren. Hinzu kam, dass inzwischen das Sortiment aktualisiert worden war – innerhalb eines Tages ein neuer Treffer, Wahnsinn!)

Micke freute sich übrigens auch über den Besuch. Natürlich habe ich ihm beide Male jeweils eine Ukulele gezeigt, auf der er sehr gut gespielt hat. Für mich eine tolle Sache, so einen Einkaufsbummel mit ganz persönlichem Bezug zu machen.

In dem kleineren Laden waren die Angestellten übrigens ebenfalls sehr freundlich. Es lief ein Reggaestück, das sehr alt klang und mich an melancholische frühe Rockmusik erinnerte. Wie man mir auf Nachfrage erläuterte, handelte es sich um Rocksteady von den Paragons. Man verglich sie mit den Heptones, die ich wiederum als Interpreten des wunderschön-melancholischen „Our Day Will Come“ kannte. So ein richtiges Stück Musikbildung durch eine kleine Frage – was will man mehr?

The Paragons: On the Beach

Toll auch, was ich unter den Sonderangeboten entdeckte: Das Album mit der Originalversion von „Didi“! Dazu eine Anekdote: Ich war 20 Jahre alt, es war um den Jahreswechsel 1996/97 herum, ein Esperantotreffen, das damals berühmt-berüchtigt dafür war, dass dort so richtig abgefeiert wurde. Ein Freund und ich gingen in den Keller, in dem sich Kneipe und Disco befanden, und was war los? Es war wie in einem Film – überall tanzten Leute, auch auf den Tischen. Und dabei wirkten die Menschen nicht betrunken oder besonders berauscht, sondern eher fröhlich-ausgelassen. Diese Szene hat sich tief in mein Gedächtnis gegraben. Es war so einer der magischen Momente.

Das Lied, das zu diesem Zeitpunkt lief, habe ich nie vergessen. Ostern 1999 in Italien, ich arbeitete auf einem Esperantotreffen als DJ, kam ein Däne auf mich zu mit einem Album, auf der angeblich einige tolle Lieder seien. Ich erkannte natürlich sofort „Aïcha“ wieder, ein Schwoflied, das auch in Deutschland recht bekannt geworden ist. Außerdem empfahl er mir „Didi“, was für mich zunächst wie ein Männername klang. Einmal aufgelegt, erkannte ich es jedoch sofort wieder als das Lied aus dem magischen Moment! Die Version war eine etwas andere, sie gefällt mir sogar noch etwas besser. Trotzdem finde ich auch das Original großartig, und natürlich kamen all die alten Erinnerungen wieder hoch, als ich die CD im Laden in Stockholm probehörte. Mit einem Schlag in einen coolen Zeitpunkt der Vergangenheit zurückversetzt zu werden, das hatte schon etwas.

Khaled: Didi

Stockholm, ich liebe Dich!

Nach meiner abenteuerlichen Anreise und einem kurzen Frischmachen kam direkt der erste Höhepunkt meines Aufenthaltes in Stockholm: Ich traf Martin Wiese, eines meiner musikalischen Idole! Er hatte ja als einziger beim Amplifiki-Konzert über Ostern gefehlt, was allerdings dazu geführt hat, dass ich als Sänger eingesprungen bin – einer der schönsten Tage in meinem Leben!

Martin Wiese

Martin Wiese


Texte seiner Lieder, die er für Persone oder seine Solo-Aktivitäten geschrieben hat, waren während der ganzen Reise in meinem Kopf und konkurrierten um meine Aufmerksamkeit. Longe for („Weit weg“) ist ohnehin eines meiner Lieblingslieder, das ich seit vielen Jahren mit Band oder alleine nachspiele. Jetzt passte es auch inhaltlich wunderbar: Den Rahmen bildet die Erzählung darüber, wie der Frühling gekommen ist (und langsam der Sommer kommt) und wie herrlich die Tage nun sind. Konnte es eine bessere Einstimmung auf eine Reise nach Skandinavien geben?

Stockholm selbst hat übrigens in einem anderen Lied auf demselben Album eine Hymne bekommen. Der Refrain lautet:

Ja, Du bist schön, schön wie das schönste Mädchen /
Stockholm, ich liebe Dich

Und so saßen wir vor einer spanischen Tapas-Bar direkt um die Ecke von meinem Hotel. Ein unwirkliches Gefühl: Es wirkte so alltäglich, und doch war es das erste Mal, dass wir das in seinem Heimatland und seiner Heimatstadt machten! Ich hatte zwei Ukulelen mitgebracht, auf denen wir dann ein wenig spielten. Zwischendurch kamen Passanten vorbei und freuten sich über die Darbietung.

Nachdem sich Martin verabschiedet hatte – er musste ja am nächsten Morgen arbeiten – ging ich noch ein wenig alleine los, um ein spätes Abendessen zu bekommen. Auf dem Rückweg sprach mich ein schwedisches Pärchen an: Ob ich nicht Lust hätte, mit ihnen einen trinken zu gehen? Nun trinke ich zwar nach wie vor keinen Alkohol, obwohl ich es wieder dürfte, aber das war ja kein Hindernis. Für die beiden war es die letzte Runde; ich blieb noch und trank meine große Cola aus, als – es war bereits Mitternacht – das Spiel Kamerun – Kroatien angepfiffen wurde. Eigentlich hätte ich ja müde sein müssen nach der langen Reise, aber ich hatte noch ein wenig WM zu gucken. Da mich das Spiel durchaus fesselte, sprach mich irgendwann das Paar am Nebentisch an. Über Fußball kamen wir dann wunderbar ins Gespräch über Gott und die Welt. Nach der Partie machten wir sogar zusammen Musik – gut, dass ich nach wie vor die beiden Ukulelen dabei hatte!

Als wir schließlich gingen, war es kurz vor 3 Uhr morgens und fast taghell draußen. Was für eine faszinierende Erfahrung!

Stockholm bei Nacht

Stockholm bei Nacht